ÜBUNGSREGELN FÜR DAS KARATETRAINING

(Übersetzung aus Gichin Funakoshis Buch "Karate-Do Nyomon")

 

 

 

 

 

Bevor ich auf die technischen Aspekte des Karate eingehe, möchte ich dem Leser gern allgemeine Hinweise geben, wie an die Übung herangegangen werden sollte und auch einiges dazu sagen, welche Einstellung man zum Karatetraining haben sollte.

 

Erstens:

 

Da Karate eine Kampfkunst ist, muss man sie von Anfang an mit größter Ernsthaftigkeit üben. Dies ist mehr, als nur fleißig und engagiert zu trainieren. Bei jedem Schritt, bei jeder Bewegung der Hand muss man sich vorstellen, einem Gegner mit gezogenem Schwert gegenüberzustehen.

 

In jeden einzelnen Faustschlag muss man die Kraft des ganzen Körpers legen, mit dem Willen, einen Gegner mit einem einzigen Schlag zu vernichten. Man muss sich vorstellen, dass man sein eigenes Leben verwirkt hat, falls der Schlag den Gegner verfehlt. Wenn man so denkt, werden Kraft und Verstand konzentriert und der Kampfgeist entsteht von selbst. Ganz gleich, wieviel Zeit man dem Training widmet, ganz gleich, wie viele Monate und Jahre vergehen, solange die Übung in nichts anderem als dem Bewegen der Arme und Beine besteht, könnte man ebenso gut einen Tanz studieren. Man wird niemals die Bedeutung des wahren Karate erkennen.

 

Im Laufe der Zeit wird man bemerken, dass ein Training im Bewusstsein tödlichen Ernstes nicht nur für das Studium des Karate von Vorteil ist, sondern sich auch auf viele andere Aspekte des Lebens auswirkt. Das Leben selbst gleicht oft einem Kampf mit echten Schwertern. Was glaubt man mit einer lauen Grundhaltung schon Großartiges im Leben erreichen zu können - etwa, indem man annimmt, dass nach jedem Fehler eine zweite Chance gegeben sei - und dies angesichts einer kurzen Lebensspanne von nur fünfzig Jahren?

 

Zweitens:

 

Versuche alles genau so auszuführen, wie es gelehrt wird, ohne Klagen und Ausflüchte. Nur die, denen es an Begeisterung fehlt und die nicht willens sind den Tatsachen ins Auge zu sehen, suchen Ausflüchte. Oft sind ihre lächerlichen Beschwerden schon fast rührend. Wenn ich beispielsweise die Rückwärtsstellung unterrichte, treffe ich auf Leute, die sagen, dass sie diese Stellung einfach nicht lernen könnten, ganz gleich, wie sehr sie sich auch bemühten. Sie fragen mich, was sie tun sollen, obwohl sie noch nicht einmal eine Stunde lang geübt haben. Selbst wenn jemand die Rückwärtsstellung voller Eifer täglich übt, so lange steht, bis seine Beine so hart wie Fels sind, würde er dennoch sechs Monate oder ein Jahr benötigen, um sie zu erlernen.

 

Wenn man sagt: "Es geht nicht, so sehr ich mich auch bemühe.. " ohne auch nur ein bisschen ins Schwitzen gekommen zu sein, so ist das lächerlich. Wenn ein Zen-Mönch etwas Derartiges vernähme, würde er wahrscheinlich schreien und schimpfen und zu guter Letzt eine Kostprobe seines Stockes geben.

 

Man kann nicht durch Worte üben. Man muss mit dem Körper lernen. Während man im Bestreben, sich selbst zu schulen und zu vervollkommnen, Schmerzen und Qualen erduldet, sollte man sich stets vor Augen halten: Wenn andere dazu in der Lage sind, kann ich es auch. Man frage sich: "Was hält mich auf? Was mache ich falsch? Übersehe ich etwas?" Das heißt Ausbildung in den Kampfkünsten.

 

Wichtige Punkte, die uns von anderen gelehrt werden, geraten schnell in Vergessenheit, aber die Essenz der durch persönliche Mühen und Leiden erworbener Erkenntnisse wird nie vergessen werden. Ich glaube, dass aus diesem Grund die Kampfkunstmeister von alters her nur jenen Schülern ein Diplom verliehen und nur diese in die letzten Geheimnisse ihrer Kunst eingeweiht haben, die fast unerträglich hart und eisern trainiert hatten, und deren eigene Erfahrung sie daher unmittelbar zum Geist des Budo geführt hatte.

 

 

Drittens:

 

Wenn man eine neue Technik erlernt, übt man sie von ganzem Herzen, bis man sie wirklich verstanden hat. Man sollte nicht versuchen, alles auf einmal begreifen zu wollen. Man übe sorgfältig. Karate beinhaltet viele Techniken und Katas. Man darf nicht einem Irrtum verfallen und glauben, weil es viel zu lernen gibt, könne man alles schnell in umfassender Weise verinnerlichen. Für eine unerfahrene Person, die die Bedeutung der Kata oder der in ihr enthaltenen Technik nicht kennt, ist es völlig unmöglich, alles im Gedächtnis zu behalten. Für so jemanden ist Kata nichts weiter als ein zusammenhangloses Durcheinander von Bewegungen. Würde jemand jede Bewegung und jede Technik unabhängig voneinander lernen, könnte er nicht erkennen, wie die Katas untereinander zusammenhängen und in welcher Weise eine Kata Bewegungen und Techniken zusammenfaßt. Während so das eine gelernt würde, würde das andere schon wieder vergessen werden: das Resultat wäre völlige Verwirrung.

 

Ein Schüler, der auch nur in einer einzigen Technik gut bewandert ist, wird naturgemäß entsprechende Punkte in anderen Techniken erkennen. Ein Jodan Fauststoß, ein Gedan Fauststoß, ein gerader Fauststoß und ein entgegengesetzter Fauststoß sind im Wesentlichen gleich. Wenn man die etwas mehr als dreißig Katas betrachtet, die wir üben, wird man erkennen, dass sie im Wesentlichen lediglich Variationen von nur einer Handvoll sind. Wenn man eine einzige Technik richtig verstanden hat, braucht man nur noch die Ausführung anderer Techniken zu beobachten und ihre wesentlichen Punkte erfragen. Man wird sie in relativ kurzer Zeit verstehen können.

 

Man erzählt sich folgende Geschichte über einen Meister des Gidayu(Rezitaiionsgesang). Als er sich während seiner Lehrzeit damit abmühte, den Vortrag der endlosen epischen Gesänge zu erlernen, hatte er einen äußerst strengen Lehrer, der ihn jahrelang nur eine einzige, bestimmte Passage aus dem Taikoki lehrte, einem Drama über das Leben und Zeit von Toyotomi Hideyoshi. Er weigerte sich, ihm etwas anderes beizubringen. Hunderte Male am Tag, tagaus tagein, musste der Schüler immer wieder denselben Auszug anstimmen, und jedes Mal war des Lehrers einzige Bemerkung dazu: "Beinahe gut." Er erlaubte ihm jedoch nicht, mit der nächsten Passage zu beginnen.

 

Letztlich kam der verbitterte Schüler zu dem Ergebnis, dass er für diesen Beruf nicht geeignet sei, und lief mitten in der Nacht davon, um sein Glück in der Hauptstadt der Shogune, in Edo, mit etwas zu versuchen, das ihm mehr läge. Unterwegs wollte es der Zufall, dass er für die Nacht in einem Gasthaus in der Provinz Suruga, der heutigen Präfektur Shizuoka, Rast machte, in dem sich eine Gruppe von Gidayu- Begeisterten zu einem Amateur-Wettstreit versammelt hatte. Immer noch tief in der Kunst gefangen, die er so lange Zeit geübt hatte, konnte er dem Drang nicht widerstehen, sich an dem Wettstreit zu beteiligen. Obwohl er ein Außenstehender war, ging er auf die Bühne und rezitierte aus ganzem Herzen die einzige, ihm so gut bekannte Stelle. Als er endete, kam ein älterer Herr, derjenen Wettbewerb ausgerichtet hatte, auf ihn zu. "Du meine Güte, das war wirklich großartig," rief der ältere Herr aus. "Ich würde gern Euren richtigen Namen erfahren. Wenn mich meine Augen und Ohren nicht täuschen, müsst Ihr ein berühmter Meister sein."

 

Dem ehemaligen Schüler verschlug es bei soviel Schmeichelei und Lob glatt die Sprache. Er kratzte sich am Kopf und platzte dann heraus: "Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt als das. Ich bin doch ein offenkundiger Anfänger. Ich muss gestehen, dass ich nicht einmal die Passagen vor oder nach der Textstelle kenne, die ich gerade rezitiert habe."

 

Der ältere Herr war außerordentlich überrascht. "Ist das wahr? Aber Euer Können ist dem der Bunraku Meister vergleichbar. Wer um alles in der Welt war Euer Lehrer?"

 

Der Schüler erzählte nun von der Strenge seiner Ausbildung und wie er schließlich aufgegebenen hatte und davongelaufen war.

 

Mit einem Seufzer sagte der Herr: "Da habt Ihr einen schrecklichen Fehler begangen. Nur weil Ihr das Glück hattet, unter einem solch strengen Meister lernen zu dürfen, war es Euch vergönnt, so viel in nur so wenigen Jahren zu lernen. Folgt meinem Rat: Kehrt sofort zu Eurem Lehrer zurück; bittet ihn um Verzeihung und nehmt Euer Studium wieder auf."

 

Als er das hörte, wurde dem Schüler plötzlich klar, welchen Fehler er begangen hatte und er kehrte zu seinem Lehrer zurück. Schließlich wurde er ein Meister seiner Kunst. Ich glaube, diese Geschichte handelt von keinem anderen als von Meister Koshiji.. Aber wer auch immer es war, sie berührt einige interessante Punkte, über die man einmal nachdenken sollte.

 

 

Viertens:

 

Man gibt nicht vor, ein großer Meister zu sein, und versucht nicht, sein Können nach außen hin zu zeigen. Es ist albern, dass viele derjenigen, die die Kampfkünste ausüben, der Meinung sind, sie müssten damit protzen, Kampfkünstler zu sein. Man stelle sich nur einmal jemanden vor, der mit hochgezogenen Schultern und gespreizten Ellbogen die Straße entlang stolziert, als ob sie ihm allein gehören würde und das mit einem Gesichtsausdruck, als wollte er sagen: "Ich bin der größte Held, der je gelebt hat." Selbst wenn es so wäre, die Achtung vor ihm würde mindestens um die Hälfte sinken. Und wenn er dann in Wahrheit gar nicht über besondere Fähigkeiten verfügen könnte, sondern nur ein Held in seiner Einbildung wäre, wäre das ganz besonders lächerlich.

 

Die Tendenz, aufzuschneiden oder anzugeben ist für gewöhnlich das Auffälligste an Neulingen. Aber gerade dadurch schädigen sie das Ansehen derjenigen, die die Kampfkünste seriös ausüben. Dann gibt es natürlich auch solche, die gerade mal oberflächlich ein oder zwei Karatetechniken kennen, aber ihre Fäuste immer so halten, dass andere auf ihre verhärteten Fingerknöchel aufmerksam werden müssen, während sie sich ihren Weg durch das Gedränge bahnen, als ob sich ihnen niemand entgegenstellen könnte.

 

"Sein Lächeln kann sogar die Herzen kleiner Kinder gewinnen; vor seinem Zorn duckt sich selbst der Tiger in Furcht." Dies beschreibt sehr treffend den wahren Kampfkünstler.

 

 

Ein fünfter Punkt,

 

den ich erwähnen möchte, ist der, dass stets die Formen der Höflichkeit zu beachten sind, und gegenüber den Älteren immer Ehrerbietung und Folgsamkeit an den Tag zu legen sind. Es gibt keine Kampfkunst, die nicht die Bedeutung von höflichen, auf gegenseitiger Achtung beruhenden Umgangsformen betont.

 

Höflichkeit und Achtung sollten nicht auf das Dojo begrenzt bleiben. Ist es denkbar, dass jemand sich zwar vor dem Schrein im Dojo verbeugt, aber an einem Schrein am Wegesrand vorbeigeht, ohne ihm Beachtung zu schenken? Ich hoffe doch nicht: Oder anders gefragt: Gibt es jemanden, der zwar gern die Anordnungen der Ranghöheren in seinem Dojo befolgt, aber die Worte seines Vaters oder älteren Bruders einfach überhört? Ich hoffe nicht. Falls es so jemanden gibt, so hat er wohl kaum das Recht, irgendeine Kampfkunst zu erlernen.

 

Innerhalb der Familie hört man auf seinen Vater und seine älteren Brüder. In der Schule gehorcht man seinem Lehrer und seinen älteren Mitschülern. In der Armee befolgt man die Befehle der Offiziere und anderer höher gestellter Dienstgrade. Im Beruf widersetzt man sich nicht seinen Vorgesetzten oder missachtet ihre Worte. Daher lohnt es sich schon, irgendwann einmal Karate geübt zu haben.

 

 

Sechstens:

 

Man muss sich dem Bösen verschließen und sich zugleich das Gute zu eigen machen. Wenn man andere beim Training beobachtet und dabei etwas entdeckt, das man selbst erlernen sollte, versucht man, sich dies ohne Zögern anzueignen. Bemerkt man, wie jemanden in seinen Bemühungen nachlässt und in Faulheit abgleitet, prüfe man sich selbst mit strengen Augen. Wenn man jemanden sieht, der besonders gute Fußtritte ausführt, frage man sich selbst, weshalb sie so gut sind. Wie, frage man sich, kann man lernen, ebenso zu treten; worin unterscheidet sich der eigene Tritt von dem seinen? Auf diese Weise sollte man in der Lage sein, sich eine Methode auszudenken, um den eigenen Tritt zu verbessern. Wenn man jemanden sieht, der keine Fortschritte zu machen scheint, frage man sich nach dem Warum. Vielleicht trainiert er nicht genug oder vielleicht fehlt ihm die Entschlossenheit. Man frage sich: Trifft dies nicht auch auf mich zu?

 

Dieses Verhalten fördert nicht nur die Verbesserung der technischen Fertigkeiten. Wir alle haben unsere guten und unsere schlechten Seilen. Wenn wir uns aufrichtig um Selbstvervollkommnung bemühen, kann uns jeder, dem wir begegnen, ein Vorbild oder ein Spiegel zur Selbstbetrachtung sein. Ein altes Sprichwort sagt: "Sannin okonaeba kanarazu waga shi ari." (Dies ist ein Zitat aus den "Gesprächen" des Konfuzius: "Wenn zwei andere mit mir gehen, so könnten sie meine Lehrer sein. Ich werde ihre guten Eigenschaften suchen, um sie zu befolgen und ihre schlechten Eigenschaften, um sie zu vermeiden.") *

 

 

Siebtens:

 

Sieh das alltägliche Leben als Karatetraining. Betrachte Karate weder als nur zum Dojo gehörend noch als reine Kampfkunst. Der Sinn der Karateübung und ihre Trainingselemente sind ohne Ausnahme auf alle Bereiche unseres täglichen Lebens übertragbar. Die Fähigkeit zur Selbstüberwindung, die entsteht, wenn man die Zähne beim Training in der Winterkälte zusammenbeißt oder wenn man im Sommer den Schweiß aus den brennenden Augen wischt, kann bei allen Bemühungen dienlich sein.

 

Ein Körper, der durch die intensive Übung von Tritten und Schlägen gestählt wurde, wird keiner Verführung erliegen, weder angesichts einer schwierigen Prüfung, noch wenn es darum geht, eine lästige Aufgabe zu Ende zu bringen. Für jemanden, der sein Herz und seine geistigen Kräfte durch Kumite-Übungen zum Durchhalten erzogen hat, wird keine Herausforderung zu groß sein. Jemand, der lange Jahre hindurch körperliche und seelische Schmerzen gelitten hat, um einen Schlag oder Tritt zu erlernen, sollte in der Lage sein, jede Aufgabe in Angriff zu nehmen und zu lösen, ganz gleich, wie schwer sie auch sein mag. Wer solche Tugenden entwickelt hat, kann wahrlich von sich sagen, dass er Karate gelernt hat.

 


* In der englischen Ausgabe des Karate Do Nyumon steht an dieser Textstelle: "When I walk along with two others, they serve me as my teachers. I will select their good qualities and follow them, their bad qualities and avoid them." An dieser Stelle zitiert nach: The Chinese Classics, Vol. I: Confusian Analects, The Great Learning, The Doctrine of the Mean. trans. James Legge. Hong Kong: Hong Kong University Press, 1960

 


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